Kino ohne Talent
roman

Das Grauen der Tiefe: Kapitel XXXVI

09.09.2010 - 12:42 von Redaktion

"Hier, bitte sehr, Falke, dein neuet Spielzeuch", sagte Thul feierlich und polierte die letzte Linse des Zielfernrohrs.
"Hmm, sieht gewöhnungsbedürftig aus", gab dieser zurück.
"Kannst dir ja dran jewöhnen, wenn du hier uff Leute zielst, die hier rinn wollen, aber nicht dürfen", war Kettes Vorschlag.
"Und was treibt ihr so heute?"
"Wir? Wir schnipsen ma kurz zum Scheffie rüber und schnacken da mit nen paar Leutchen."
"Wegen gestern Abend? Da braucht ihr aber schon nen paar mehr als diese läppischen Wagenburgler mit ihren schrottreifen Traktoren."
"Nee, nur eene. Aber die hats dafür richtig druff."
"Na, da bin ich aber mal gespannt."
"Dit darfste durchaus sein."
Zu dritt machten sie sich mit dem bewaffneten Lastenrad auf den Weg.
"Ey Thul, wat hastn da jeiles in der Tasche?", fragte Kette und deutete auf den antiken Seesack den Thul mitschleppte.
"Spielzeuch", antwortete dieser knapp.
"Echt? Cool. Kann ick ma sehn?"
"Neee, iss meens."
Kette versuchte, sich den Sack zu schnappen, doch Thul dreht sich so, dass er zwischen Kette und dem Seesack stand.
"Meens", sagte er nur knapp.
Kette versuchte es über die andere Seite. Thul drehte sich wieder so, dass er dazwischen stand
"Meens", wiederholte er.
Das ganze Spielchen ging fünf Minuten so. Jedes Mal, wenn Kette an den Rucksack wollte, drehte sich Thul ihm in den Weg und sagte: "Meeens!"
Easy saß auf dem Platz des Ladeschützen für das MG vorne auf der Ladefläche und sah dem komischen, beinahe an einen Tanz anmutenden Rumgehopse der beiden zu. Sie überlegte, ob sie dem Schauspiel mit einer Salve aus dem MG ein Ende machen sollte, entschied sich jedoch dagegen.
Als die beiden fertig und das Gepäck verstaut war, ging es los. Kette trat in die Pedale, Thul besetzte das MG als Richtschütze, und schon waren sie unterwegs in Richtung Wagenburg Scheffel.
"Wen besuchen wir eigentlich in dieser Wagenburg?", fragte Easy.
"Samantha Guderian", kam es von Kette.
"Kenn ick nich", kam es von Thul.
"Och, die wirste schon kennen lernen."
"Aha und wieso? Wenn ick fragen darf."
"Wirste schon sehen, wenn wa se sehen."
"Na, da bin icke ja mal gespannt wien Flitzebojen, wat an der so toll sein soll."
Nach einer Fahrt über Geröll und Straßenreste erreichten sie ein Gebilde, dass sich flach an den Boden zu drücken schien. Beim Näherkommen sah Easy, dass es ein Gebäudekomplex war, der mit einem Zaun, ähnlich dem auf Thuls Hinterhof, umgeben war. An einer Stelle war, wie es schien, eine riesige Stahlplatte eingefügt, die von zwei Unterständen aus lauter Säcken flankiert wurde. Sandsackbunker, wie ihr Kette erklärte.
Als sie vor der Stahlplatte standen, rief ihnen jemand von drinnen zu: "Waffen sichern, Absteigen, Ausweisen!"
Sie taten wie ihnen befohlen wurde.
"Auch dir einen zauberhaften guten Morgen, Sam", rief Kette der Stahlplatte entgegen.
"Ach, Kette, du bist dit. Na, dann kommt mal rinn."
Plötzlich geriet die Stahlplatte in Bewegung und Easy erkannte, dass sie eine Art Räumschild war, der vor einem Fahrzeug angebaut worden war und nun als Tor diente. Kette ging vor, Easy folgte ihm und Thul schob hinter ihnen das Fahrrad. Als sie drinnen waren und das Tor geschlossen war, stieg jemand oben aus der Turmluke des Panzers.
"Na, was haltet ihr von meinem Baby", sagte die Frau in Kettes und Thuls Alter, die oben aus der Luke rauschaute und täschelte dabei das Fahrzeug.
"Hübsches Töff-töff, passt zu dir", sagte Kette.
Easy betrachtete das Stahlmonster mit Abscheu. Thul stand wie angewurzelt und starrte mit offenem Mund. Er reagiert auch nicht, als Easy mit der Hand vor seinen Augen rumfuchtelte.
"Hallo Erde an Thul, bitte kommen!", sagte sie, "Hey, Hallo! Aufwachen! Was ist denn los mit dir?"
"Panzaaaaaa", sagte Thul halblaut.
Dann rief Easy zu Kette: "Du, Thul reagiert nicht mehr, der ist wie gelähmt und gibt komische Laute von sich."
Kette kam zu den beiden, betrachtete Thul eingehend und folgte dann seinem Blick.
Danach war ihm alles klar: "Dit dit so schlimm wird, hätt ick nich jedacht."
Auch Easy folgte seinem Blick. Sie sah die Frau mit braunen Haaren, die sie zu einen Zopf geflochten hatte, der bis zur Mitte ihres Rücken reichte. Gekleidet war sie in ein olivgrünes Tank-Top und eine halb angezogenen Bundeswehrpanzer-Kombination.
"Ja und? Hat der etwa noch nie eine Frau gesehen?", fragte Easy.
Thul starrte weiterhin wie hypnotisiert zu dem Panzer, dabei lief ihm, kaum sichtbar, ein kleines Rinnsal Speichel aus dem Mund.
Kette fasste sich an den Kopf, atmete tief ein: "Janz einfach, Easy", begann er, "Waffenfreak, Panzer. Schlosser, Schlosserin. Frau, Mann."
Dabei zeigte er abwechselnd auf Thul, den Panzer und Sam.
"Ey, wat glotzn so, noch nie nen Panzer jesehn, oda wat? Mach's Maul zu, de Milchzähne werden saua!", rief Sam zu Thul rüber.
"Der glotz nich, der bewundat, Sam", rief Kette zu ihr.
Sam stieg von ihrem Panzer.
"Aha. Und wat bewundert der so ausführlich?"
"Tja, dit kannste dir aussuchn", sagte Kette mit einem Grinsen.
"Von mir aus kanna bewundern, wie und watta will. Hauptsache er steht dabei nich im Wech, und dit tuta jerade janz akut. Also wat treibt euch hier her, und wer sin' die Neuen bei dir?"
"Dit iss Easy, und sie iss ooch der Grund, warum wa hier sind."
Er dreht sich zu Thul: "Ey, kommste, Keule, oder willste warten, bis dich der Kontinentaldrift bei uns vorbeischiebt?"
"Ja ja, ick komm ja schon", sagte Thul kaum hörbar und setzte sich wie in Trance in Bewegung.
"Wer ist der Zombie, und wie seid ihr mit dem vom RAW bis hier her jekommen?", fragte Sam.
"Ditte? Dit iss Thul."
"Der Thul? Dit iss nich dein Ernst. Der Klappspaten kann doch nich der psychopatischste Waffenschmied von Alt-Fhain sein, so tranig wie der iss."
"Doch dit isser, wenn icks dir doch saje. Warum sollte ick dir anlüjen?"
"Wie willste dir denn mit der Trantüte irgendwelche verbalen Weltkrieje liefan? Der kricht ja nicht mal nen jeraden Satz zustande."
"Ihm hats halt mal de Sprache verschlajen. Wobei ick hoch erfreut bin, dit ick sowat noch erlebn darf."
"Wat hat ihm denn die Sprache verschlajen?"
"Frach ihn doch selba."
"Ey Keule, wat hatn dir so die Sprache vaschlajen?"
"Ähh …", der Rest des Satzes ging in einem Hustenanfall unter, da er sich an seiner Spucke verschluckt hatte.
Sam wandte sich wieder an Kette: "Ick gloob dir imma noch nich, das dit Thul sein soll. Naja ejal, behaupte watte willst. Also, wat führt euch her?"
"Also, schon wie jesacht …"
"Alarm! Die Städtische Schutztruppe!", schallt es plötzlich durch die Wagenburg.
Alles geriet in Bewegung und Hektik. Kette, Thul und Easy rannten zu ihrem Lastenrad. Kette und Easy schnappten sich das MG von ihrem Rad und brachten es in einem der Bunker seitlich des Tores in Stellung. Thul fummelte an seinem Seesack rum und Sam kletterte in ihren Panzer. Wenige Minuten später schlugen die ersten Mörsergranten auf dem Dach des Bunkers ein, Staub und Sand rieselte auf Kette und Easy herab. Von Thul war nichts zu sehen.
Durch das Zielgerät ihres Panzers konnte Sam einzelne Infanterie-Trupps ausmachen, nahm einen von ihnen aufs Korn und schoss. Zwei weitere Schüsse später hatte der Gegner seinen Granatwerferbeschuss von den Bunkern auf den Panzer konzentriert. Außerhalb ihres Feuerbereichs arbeiteten sich Soldaten mit Haftminen an sie heran.
Plötzlich hörte sie, wie etwas auf ihren Panzer stieg und darauf herum lief. Sam wusste, dass gleich eine Sprengladung eine Luke öffnen und eine Handgranate den Rest besorgen würde. Zu ihrer Überraschung blieb die erwartete Explosion aus. Stattdessen hört sie nur fünfmal ein leises 'Pfump' das direkt vor ihrem Turm erklang. Kurz drauf hörte sie fünf Granatenexplosionen vor ihrem Panzer und eine MG-Salve, die ebenfalls von ihrem Panzer ausging.
Als sie durch das Periskop rausschaute, sah sie eine Gestalt, ähnlich gepanzert wie ein mittelalterlicher Ritter, in einem schweren Plattenpanzer, mit etwas bewaffnet, was wie ein vollautomatischer Granatwerfer mit Maschinengewehr zu sein schien. Was immer das war, es hielt den Sturmgewehren stand und den Gegner auf Abstand. Die nächsten feindlichen Granateinschläge lagen dicht hinter ihren Panzer und kamen steil rein. Die dritte Granate traf den Motor. Sam wusste, dass dieser Kampf und alle folgenden Kämpfe für sie vorbei waren. Sie hörte einen weiteren Einschlag und bereitete sich auf das Unvermeidlich vor. Der letzte Einschlag kam aber nicht vom Gegner, sondern von dem Gerüsteten auf ihrem Panzer. Er hatte die Luke aufgesprengt und hielt die Hand zum Aussteigen hin.
"Nee! Ick lass meen Baby nich im Stich! Wenn, dann jeh ick mit ihm inne Luft."
Der Gerüstete macht eine Geste, die sie aufforderte, auszusteigen. Sam weigerte sich. Der Gerüstete griff nach ihrem Zopf und zog daran. Sam zog ihr Messer und wollte sich den Zopf abschneiden. Da griff er nach ihrem Arm, versuchte sie daran herausziehen. Doch Sam klammerte sich mit ihren Beinen am Sitz fest, so dass sie mit dem Kopf herausragte. Was sie sehen bekam, war nicht viel. Eine Faust in einem Metallhandschuh raste auf sie zu und es wurde dunkel.

Als sie wieder zu sich kam, fühlte sich alles komisch an. Nachdem sie die Augen geöffnet hatte, erkannte sie, dass sie über der Schulter von jemandem lag, der sie trug. Im Hintergrund wuchs eine riesige Feuerwolke über den Resten der Wagenburg Scheffie in die Höhe.
"Was war das?", fragte sie.
"Unterschätz niemals die Sprengkraft von 'nem halbvollen Tornistermagazin aus'm Hause Thul", sagte ihr Träger.
"Lass mir runta, ick kann alleine loofen, du Idiot", fauchte Sam.
Ihr Träger setzte sie vorsichtig ab.
"Bis vor kurzem noch nich." bemerkte er dabei.
Sobald Sam wieder festen Boden unter den Füßen hatte, holte sie aus, um dem Typen, der sie niedergeschlagen und dazu gezwungen hatte, ihren heißgeliebten Panzer im Stich zu lassen, eine reinzuhauen. Sie holte aus, schlug hart zu und hielt sich kurz darauf die schmerzende Hand. Thul setzte mit einem Grinsen den Helm ab, hielt sich die linke Wange und spuckte etwas Blut aus. Sam hatte ihm mit der anderen Hand einen, im wahrsten Sinne des Wortes, linken Haken verpasst.
"Wenna dann bald ma mit eurem Balztanz fertich seid, wär ick froh, wenn wa bald mal de Werkstatt uffsuchen könnten. Ick möchte daruff uffmerksam machen, dit wa die Städtische Schutztruppe am Hacken ham", sagte Kette.
Sie liefen weiter.
"Dann musste wohl oda übel doch Thul sein", sagte Sam.
"Haste jemals dranne jezweifelt?"
"Oh ja!"
"Wie kommste denn uff it dünne Brett?"
"Weil ick keenen sabbernden Vollidioten erwartet hab."
"Ich hab gesabbert?"
"Oh ja. Mit dir hätt ich nen Jarten bewässan können."
"Siehet als Kompliment." gab er zurück.
Sam verpasste ihm dafür eine schallende Ohrfeige.
"Wennde deine Klappe nich im Zaum halten kannst, dann kannet passieren, ditte die Rückkehr in deine heißjeliebte Werkstatt nich mehr erlebst."
"Ey, ick hab nen Rätsel für dich", sagte Thul, plötzlich mit gespielter Fröhlichkeit.
"Nerv nich!"
"Wat iss rot und dreht sich?"
"Keene Ahnung", sagte Sam genervt.
Thul kniff ihr daraufhin in die Brustwarze und drehte sie. Keine drei Sekunden später waren beide aktive Teilnehmer einer wüsten Schlägerei.
Easy dreht sich um: "Kette, warte mal bitte. Ich glaube, das die beiden miteinander beschäftigt sind."
"Hä? Watt? Achso."
Kette schnappte sich einen Stein und warf ihn auf das sich raufende Knäuel.
"Aua!" kam es zurück, gefolgt von dem Stein.
Mit einem dumpfen Laut traf er Kette am Kopf. Kette drückte Easy das MG, das er bisher getragen hatte, in die Hand und mischt sich in die Schlägerei ein. Easy legte den Patronengurt ab und machte es sich auf einem Schutthaufen so bequem wie möglich. Und guckt sich das Gerangel gelangweilt an.
Nach fünf Minuten rief sie: "Wenn ihr nicht bald fertig seid, dann mache ich mit bei eurer Schlägerei."
"Watt willste denn machen? Hast doch ja keene Bratpfanne dabei", rief Kette.
"Na und, ich habe ein Maschinengewehr."
"Damit kannste doch jarnich umjehen."
"Genau das habe ich dann auch vor."
"Se könnte uns damit erschießn", sagte Sam
"Oda schlimma noch, se könntet kaputt machen", sagte Thul.
"Spinner, du bist eindeutig Thul." stöhnte Sam.
"Stöhn hier nicht so rum. Dit kannste von mir aus nachher bei Thul inna Werkstatt machen", sagte Kette. Dafür fing er sich von Sam einen Tritt in die Eier ein.
Keuchend ging er zu Boden: "Boah, Thul, kann ick bei dir nen Tiefenschutz bestellen? Die dauernde Treterei geht mir tierisch auf die Eier."
"Nee Keule, die letzten beeden Mal hast dir hart erkämpft und würdich vadient."
Easy hatte inzwischen herausgefunden, wie man das MG entsicherte und durchlud. Was sie hörbar unter Beweis stellte. Beim Geräusch des Durchladens erstarrten die drei Streithähne. Easy hatte das MG entsichert, durchgeladen, angelegt und auf die Drei gerichtet. Sie schwenkte plötzlich nach links und feuerte eine Salve ab. Die drei warfen sich zu Boden. Eine zweite Salve fegte über sie hinweg.
"Mensch Easy, nu mach doch nich son Scheiß", rief Kette
"Halt die Fresse und komm her, wenn du es besser kannst, du elender Klugscheißer", rief sie verbissen zurück.
Als sie in die Richtung gucken, in die Easy geschossen hatte, sahen sie einen Schutztruppler, der zentimetergenau in der Mitte von einer MG-Salve zersägt worden war.
"Dit nenn ich Maßarbeit", kommentierte Sam.
"Ach was, Anfängerglück", sagte Kette.
"Fakt ist, wir sollten hier weg. Die wern uns sicher nich mit Blütenblättan bewerfn, wenn die hier ihrn toten Kameraden und uns mit'm MG sehen", trieb Thul sie an
"Wohl eha mit Granaten", beendete Sam.
"Los, los, quatschen könnt ihr nachher in der Werkstatt."
Sie erreichten die Werkstatt ohne weitere Zwischenfälle. Easy legte sich schlafen. Kette übernahm die Wache, Sam wechselte dem Falken den Verband und Thul putzte das Maschinengewehr.
Nach dem Sam beim Falken fertig war, meinte der Falke: "So, ich muss wieder los. Ich habe da noch eine Rechnung mit der R.S.K. offen."
"Na denn, Waidmans Heil!", sagte Thul.
"Waidmanns Dank", erwiderte der Falke und verschwand nach draußen.
"Kette ist beschäftigt, und die Kleene is im Bette. Wie vertreiben wir zwei uns jetzt die Zeit?", fragte Sam Thul.